Umzug ins Zooviertel
Es dauerte keine 20 Jahre, da war das kleine Kinderkrankenhaus in der Lehzenstraße oft hoffnungslos überfüllt: Die Patientenzahlen stiegen ständig. Trotz der finanziellen Risiken, die das mit sich brachte, entschied sich der Vorstand für einen Neubau. Das entsprechende Grundstück mit knapp 6000 Quadratmetern fand man in der Ellernstraße 10 im Zooviertel. Die Stadt Hannover schenkte es der Kinderheilanstalt, ein weiteres Areal nebenan, zweieinhalbtausend Quadratmeter, wurde für gut 46 000 Goldmark an den Verein verkauft. 24 Monate dauerte der Bau der neuen Klinik mit dann 110 Betten. Am 6. Januar 1893 konnte sie bezogen werden.
Das besondere Anliegen der Kinderheilkunde damals war die Senkung der enorm hohen Säuglingssterblichkeit. Man wusste allerdings noch wenig über Infektionen und Hygiene. Es gab beispielsweise keine Einwegspritzen. Spritzen und die anderen Instrumente wurden zur Sterilisation von den Schwestern auf der Station ausgekocht. 1907 wurde die Säuglingsabteilung eröffnet, die Leitung übernahm der Kinderfacharzt Dr. Wilhelm Riehn. Die Ernährung der stationär aufgenommenen Säuglinge bereitete enorme Schwierigkeiten. Man stellte Ammen ein, die dabei helfen sollten. Die Kinder wurden wegen der Infektionsgefahr streng abgesondert, und das oft wochenlang. Die Pflegerin sollte also obendrein auch die Mutterrolle übernehmen.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte schwere und sorgenvolle Jahre für die Kinderheilanstalt. Viele Ärzte waren im Krieg, und die wenigen, die zurückgeblieben waren, mussten mit oft übermenschlichen Kräften die gerade in Kriegszeiten wachsenden Anforderungen erfüllen. Und als der Krieg endlich vorüber war, kam die nächste Bürde: Die Inflationszeit hatte verheerende Folgen. Und dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Zeitzeugen von damals haben notiert, dass diese Kriegsjahre die wohl schwerste Zeit der Hannoverschen Kinderheilanstalt waren. Die Luftangriffe nahmen ständig zu. Das Gelände an der Ellernstraße lag direkt an der Bahnlinie, die auch Ziel der alliierten Angriffe war. Dementsprechend fielen viele Bomben in der Umgebung, Patienten und das Personal waren gefährdet. Und es war kaum durchzuhalten, die kranken Kinder jede Nacht in den Luftschutzbunker zu bringen. Fünfmal wurde das Krankenhaus erheblich getroffen. Drei Geschosse des Haupthauses brannten ab, die Verbindungsbauten zu den Seitenflügeln wurden teilweise zerstört, wiederhergestellt und ein weiteres Mal vernichtet. Bei diesen Angriffen sind auch viele Unterlagen der Kinderheilanstalt verbrannt.
Dies alles erschien dem Vorstand und der ärztlichen Leitung nicht länger verantwortbar, man sah sich nach einem Ausweichkrankenhaus in der Umg ebung Hannovers um. Die Wahl fiel auf das Schullandheim der Herschelschule in Nienstedt am Deister, das heute zur hannoverschen Leibnizschule gehört. Im September 1943, vor dem Großangriff auf Hannover, wurde der Krankenhausbetrieb nach Nienstedt verlegt. Lange Zeit sind der Kinderarzt Dr. Wilhelm Riehn und seine Getreuen zu Fuß nach Nienstedt marschiert – 30 Kilometer hin, 30 Kilometer zurück. Ziemlich bald nach Kriegsende wurden schon wieder Kinder in der Ellernstraße behandelt. Mit dem Wiederaufbau der zerstörten Gebäudeteile war schon während des Krieges begonnen worden. In den Jahren 1950 und 1951 standen Neubauten an: ein Klinikgebäude und ein Infektionshaus. Mit dem Entwurf wurde der hannoversche Architekt Prof. Dieter Oesterlen beauftragt, der später auch die Sanierung des Altbaus übernahm. 430 Betten standen nun zur Verfügung, eine neu geschaffene Säuglingsabteilung, eine Aufnahmestation mit Isoliermöglichkeiten, ein Infektionshaus mit drei Abteilungen sowie eine Privatstation. Im Infektionshaus wurde ein Zentrum für die Behandlung der Poliomyelitis, der Kinderlähmung, geschaffen, unter anderem mit der ersten eisernen Lunge in Hannover zur Versorgung atemgelähmter Kinder. Eine Milchküche wurde nach den modernsten Gesichtspunkten eingerichtet, das klinische Laboratorium umgebaut und vergrößert, eine neue Röntgenabteilung mit wesentlich verbesserter Ausrüstung geschaffen. Gleichzeitig wurde die Chirurgie umgebaut, es entstanden moderne Operationssäle. Im obersten Geschoss des Altbaus wurde eine Frühgeborenenstation mit zentraler Sauerstoffanlage eingerichtet. Inkubatoren, Wärmebetten und sonstiges medizinisches Gerät nach dem Stand der Wissenschaft wurden angeschafft. Mit einem Satz: Die Hannoversche Kinderheilanstalt war ein modernes Krankenhaus geworden.
Früher waren es die Chirurgie und die Innere Medizin, die die Kinderheilanstalt prägten, wenn auch speziell auf das Kind ausgerichtet. Als dann die Lehrmeister der Kinderheilkunde Neben den kinderchirurgischen, kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Spezialaufgaben begann man in der Pädiatrie mehr und mehr, das ganze Kind zu sehen, die Psychosomatik wurde zunehmend wichtiger, die Heilpädagogik. 1962 wird unter der Leitung von Frau Dr. Ursula Knaak eine Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingerichtet. Zum 100-jährigen Jubiläum der Kinderheilanstalt im Oktober 1963 konnte die Klinik einen Anstieg der Patientenzahl auf rund 8600 im Jahr vermelden – doppelt so viel wie noch zehn Jahre zuvor.